Im NW-Interview analysiert der in Spenge aufgewachsene und in den USA wohnende Amerika-Kenner Christian Hänel die Situation im Land kurz vor den Präsidentschaftswahlen.
Wie nimmst du aktuell die Stimmung im Land vor der Wahl wahr? Wie gespalten sind derzeit die USA?
Die USA sind nicht so tief “gespalten”, wie das allenthalben medial vermittelt wird. Ich komme durch meinen Job viel herum im Land. Bin zwischen den Küsten unterwegs, im Süden, im Mittleren Westen, auch abseits der Metropolen. Wirklich überall begegne ich typisch amerikanischer Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Nachbarn unterstützen sich gegenseitig, engagieren sich als Freiwillige in der Organisation ihrer communities, sind in Schulen, Kirchen, Sportvereinen etc. aktiv. Und das unabhängig von politischen Ansichten, Geschlecht, Alter, Hautfarbe oder Einkommen. Das ist die Realität, die echte Realität.
Die virtuelle Realität sieht hingegen ganz anders aus. Sogenannte Soziale Medien mit ihren Algorithmen, die absurde Verschwörungstheorien befördern, säen Misstrauen und Hass. Genau diese negativen Emotionen adressieren extreme Politikerinnen und Politiker, verstärken sie, schüren Ängste bis hin zum Verfolgungswahn (“Die anderen wollen Euch die Freiheit nehmen, Euren Wohlstand, Eure Waffen!”). In Zeiten von umfassender Digitalisierung und atemberaubenden Fortschritten im Bereich der Künstlichen Intelligenz wird die Deutungshoheit der virtuellen Realität in der politischen Öffentlichkeit zunehmend größer.
Die “klassischen Medien” könnten hier viel besser gegenwirken. Ein Beispiel: Die berühmte “Electoral Map” der USA, auf der die Bundesstaaten rot oder blau eingefärbt sind, je nachdem, ob hier die Republikaner oder die Demokraten die Mehrheit haben. Ich bin es ehrlich gesagt leid, dass wir hier alle täglich darauf starren—in Print, im TV, online. Denn diese Karte ist völlig irreführend. Der dünnbesiedelte Flächenstaat Montana beispielsweise (mit republikanischer Mehrheit) ist auf dieser Karte ein riesiges rotes Gebiet, das im Vergleich kleine Rhode Island dagegen (wo die Demokraten die Mehrheit haben) dagegen ein winziger blauer Fleck. Dabei leben in beiden Staaten fast exakt genau so viele (bzw. wenige) Menschen. Die Optik der Electoral Map erzählt aber eine ganz andere Geschichte.
Es ist die Rhetorik von den “red states” und den “blue states”, die eine Spaltung suggeriert, die so gar nicht besteht. Wir sollten eher von “purple states” sprechen, also “violetten” Staaten. Denn alle Bundesstaaten sind eine Mischung aus rot (Republikaner) und blau (Demokraten), und manchmal ist das daraus entstehende Violett eben rötlicher und manchmal bläulicher. Je nachdem, welche politische Farbe in der Mehrheit ist. Schauen wir uns die beiden größten Bundesstaaten an: Kalifornien und Texas. Auf der Electoral Map wirkt das rote Texas wie ein riesiges Bollwerk der Republikaner und das blaue Kalifornieren wie ein Imperium der Demokraten. Wenn man sich aber die Mühe macht, die tatsächlichen Wahlergebnisse anzuschauen, bietet sich ein ganz anderes Bild. 2020 haben in Texas 52,1% Donald Trump gewählt. Sehr, sehr viele Texanerinnen und Texaner, nämlich 46,5%, stimmten aber für Joe Biden. Und in Kalifornien, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat, der medial stets als “tiefblau” präsentiert wird, stimmten über 6 Millionen Wählerinnen und Wähler für Donald Trump.
Aufgrund des “winner takes all”-Prinzips in fast allen Bundesstaaten gehen alle electoral votes (Wahlmännerstimmen) eines Bundesstaates an den Kandidaten oder die Kandidatin, der/die mindestens eine Stimme Mehrheit hat. Und das unabhängig davon, wieviele Menschen in dem Staat leben (Ausnahmen sind hier lediglich Nebraska und Maine). Dieser Mechanismus wird dem Prinzip der repräsentativen Demokratie nur unzulänglich gerecht. Vor über zwei Jahrhunderten wurde dieses System eingeführt. Es ist nicht mehr zeitgemäß. Denn es führt dazu, dass zuweilen Kandidaten die Wahl gewinnen, die insgesamt, also USA-weit, weniger Stimmen geholt haben als ihr Gegenkandidat bzw. ihre Gegenkandidatin.
Kamala Harris hatte einen guten Start, schien zuletzt aber zu stagnieren. Hat sie Fehler gemacht? Wenn ja, welche?
Kamala Harris hat es seit Ende Juli auf beeindruckende Art und Weise geschafft, einem Rennen wieder Leben einzuhauchen, das schon gelaufen schien. Sie hat die Basis der demokratischen Partei (re-) mobilisiert und neue Rekorde in der Spendeneinwerbung aufgestellt. Ihre offizielle Nominierung auf der Democratic Convention im August in Chicago war ein perfekt inszeniertes Spektakel der positiven Botschaften, coolen Acts und mitreißenden Atmosphäre. Diese Wiederbelebung der Basis war für die Partei dringend notwendig. Denn es sind auch und vor allem die vielen, vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer, die im amerikanischen Wahlkampf mitentscheidend sind. Im wahrsten Sinne des Wortes ziehen sie von Haus zu Haus und kämpfen um jede einzelne Stimme.
Im September folgte das einzige TV-Duell zwischen Harris und Trump. Ein glasklarer Sieg für Harris. Ihr ansonsten sehr TV-affiner Gegenkandidat ging der direkten Konfrontation seitdem konsequent aus dem Weg und lehnte das Angebot eines weiteren TV-Duells ab.
Im Oktober begeisterte Harris ausgesprochen große Menschenmengen auf zahlreichen festivalartigen Wahlkampfveranstaltungen. Gemeinsam mit prominenten Unterstützerinnen und Unterstützern wie Barack und Michelle Obama, Bruce Springsteen, Beyoncé, Willie Nelson, Oprah Winfrey etc. tourte sie durch das Land. Talor Swift schickte ihren Millionen Followerinnen und Followern eine leidenschaftliche Wahlempfehlung für Harris. Vor ein paar Tagen sprach Kamala Harris hier bei uns in Washington, DC vor über 70.000 begeisterten Menschen, auf der sogenannten Ellipse, zwischen Weißem Haus und Washington Monument. Das ist der Ort, an dem Donald Trump am 6. Januar 2021 seine Rede hielt, in der er seine Anhängerinnen und Anhänger aufforderte, zum Capitol zu marschieren.
Kamala Harris hat das Rennen um die Präsidentschaft wiederbelebt. Sie hat in kürzester Zeit die Menschen und die finanziellen Mittel mobilisiert, die es für die Demokraten brauchte, um wieder wettbewerbsfähig zu sein. Eine Stagnation oder bedeutende Fehler kann ich mit Blick auf die vergangenen drei Monate nicht erkennen.
Eine Frage, die viele Deutsche umtreibt: Wie ist es zu erklären, dass trotz seiner ganzen Fehltritte und Skandale (Verurteilung, rassistische Ausfälle, etc.) viele US-Wähler Trump noch immer zum Präsidenten wählen würden?
Der harte Kern der Trump-Anhängerschaft steht nicht trotz, sonden wegen seiner Fehltritte und Skandale zu ihm. Das ist wie ein Personenkult. Diese Wählerinnen und Wähler sehen in Trump den einzigen Vertreter ihrer Interessen, den einzigen Beschützer ihres “wahren” Amerikas (das vor allem “christlich”, weiß, und nationalistisch zu sein hat). Rassismus, Xenophobie und politische Gewalt werden in diesem harten Kern als Mittel zum Zweck toleriert.
Die Stimmen des harten Kerns allein würden nicht ausreichen, um die Wahl zu gewinnen. Es kommen Wählerinnen und Wähler hinzu, die die Ausfälle und Skandale Trumps nicht gutheißen—und dennoch für ihn stimmen. Diese Gruppe ist nicht klein und durchaus heterogen. Statistisch sind diese Menschen vor allem im ländlichen Raum in der Mehrheit, aber sie leben selbstverständlich auch in den Metropolen, auch wenn es dort mehr Wählerinnen und Wähler der Demokraten gibt. Trump-Wählerinnen und -Wähler sind auch Kolleg/innen, Kommiliton/innnen, Mitarbeiter/innen, Verwandte, Vorgesetzte. Durchaus repräsentiv für verschiedene Bildungs-, Berufs- und Einkommensgruppen. Warum sie Trump wählen? Weil aus ihrer Sicht alles und jeder besser ist als etwas, das sie für “radikal links” halten. Und dieses alles und jeder ist—Trump.
Trump-Wählerinnen und Wähler empfinden es als Bedrohung von einer „radikalen Linken“, was von politisch “progressiven” Demokratinnen und Demokraten als notwendig und positiv betrachtet wird (z.B. humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, Unterstützung von Einwanderung, rückwirkender Erlass von hohen Studiengebühren für Universitätsabsolventinnen und -absolventen aus Steuermitteln etc.). Sie empfinden es als eine Bedrohung ihrer Werte, ihres Wohlstands, ihres eigenen Lebensmodells. Und genau hier wirkt auch wieder das Gift der Sozialen Medien. In extrem rechten Meinungsblasen werden absurdeste Verschwörungstheorien salonfähig gemacht. So kam es dazu, dass ein einzelner, haarsträubender Social Media Post von hundeessenden Einwanderern in Springfield, Ohio, einen Weg ging, der bis vor ein Fernsehpublikum von über 67 Millionen Amerikanerinnen und Amerikanern führte, als sich Donald Trump im TV-Duell mit Kamala Harris darüber echauffierte, dass Migranten amerikanische Haustiere verspeisen würden.
Die Ausfälle und die gefährlichen Absurditäten der politischen Rechten (soweit rechts-links-Schemata im heutigen politischen Diskurs überhaupt noch passen) sind hinlänglich bekannt und diskutiert. Was vielleicht auch diskutiert werden sollte, sind die Fragwürdigkeiten auf der anderen Seite des politschen Spektrums. Für den nach eigener Einschätzung besonders progressiven Teil der demokratischen Partei ist es beispielsweise gesellschaftlicher Fortschritt, wenn das Konzept von nicht mehr als zwei biologischen Geschlechtern ad acta gelegt wird und wenn das Wort “Mutter” durch “gebärende Person” ersetzt wird. Dies wirkt verunsichernd auf viele Menschen. Linke Meinungsblasen in den Sozialen Medien brandmarken diese Menschen als fortschrittsfeindlich und reaktionär. Und für diese Menschen ist damit im Zweiparteiensystem der USA Trump die einzige Alternative. Gegen den Zeitgeist, der im “alten weißen Mann” den Universalschuldigen für alle Übel sieht, wählen sie bewusst eben diesen.
Was würde es für Deutschland bedeuten, wenn Trump gewinnt? Was, wenn Harris gewinnt? Kann Deutschland wirtschaftlich und politisch weiter auf die USA als Partner setzen?
Egal, wer die Wahl gewinnt: Deutschland wird mehr außenpolitische Verantwortung übernehmen und seine eigenen Ziele klar formulieren und verfolgen müssen. Ob Harris oder Trump siegt, beide werden weiterhin substantielle Verteidigungsausgaben von Deutschland einfordern. Beruhigend ist sicherlich, dass der U.S. Congress im letzten Jahr relativ geräuschlos eine Gesetzesänderung verabschiedet hat, die einen Austritt der USA aus der NATO allein auf Geheiß des Präsidenten nicht mehr erlaubt.
Wirtschaftspolitisch werden sowohl Harris als auch Trump vor allem nationale Interessen in den Vordergrund stellen (so wie das auch schon Präsident Biden mit “Build America, Buy America” gemacht hat). Und die Exportnation Deutschland wird mit Blick auf ihre Beziehungen zu China unter Umständen zu schmerzhaften Entscheidungen gezwungen sein, egal wer die Präsidentschaftswahl gewinnt. Denn die US-amerikanische Chinastrategie ist unter Demokraten wie Republikanern deutlich robuster als die deutsche, im Austarieren zwischen Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität.
Aber machen wir uns nichts vor: Ob Harris oder Trump am Ende vorne liegt, das wird sehr unterschiedliche und sehr spürbare Auswirkungen auf das deutsch-amerikanische Verhältnis haben. Die Botschaft von Harris ist Zukunftshoffnung und Weltzugewandheit. Trumps Botschaft ist und bleibt America First. Harris steht für Pluralismus und Debatte. Trump steht für ein nationalistisches Amerika, in dem er als unantastbarer Anführer durchregiert. Harris und Trump verkörpern vollkommen gegensätzliche Visionen, Kommunikations- und Politikstile. Und diese werden das transatlantische Verhältnis in den kommenden vier Jahren ganz unterschiedlich prägen, je nachdem, wer gewinnt.
Was erwartest du, wenn Trump verlieren sollte? Wird es wieder Betrugsvorwürfe geben? Wie werden seine Anhänger reagieren?
Ein weiterer Aspekt des amerikanischen Wahlsystems, der nicht mehr zeitgemäß erscheint, ist die sehr lange Zeit des Prozesses: Vom Tag der Wahl des/der Präsidenten/in am 5. November bis zur Amtseinführung am 20. Januar vergehen 11 (!) Wochen. In dieser Periode der “Transition” finden allerhand Ereignisse statt. Ereignisse, die bis zur letzten Präsidentschaftswahl lediglich zeremoniellen Charakter hatten—und so gut wie keinerlei mediale Berichterstattung fanden. Da kommen z.B. die Electors in den Bundesstaaten zur Stimmabgabe gemäß der Ergebnisse vom Wahltag zusammen, es zertifizieren die jeweiligen Gouverneure die Wahlergebnisse und schicken diese nach Washington, und schließlich bestätigt der Kongress in der Hauptstadt das Resultat. Seit den Wahlen 2020 ist klar: All diese eigentlich rituellen Wegmarken bieten Einfallstore für Anfechtung und Manipulation des Wahlergebnisses.
Sollte Trump verlieren, ist damit zu rechnen, dass er das Ergebnis nicht akzeptiert. Er hat ja auch bis heute nicht das Wahlergebnis von 2020 akzeptiert. Der harte Kern seiner Anhängerschaft wird ihm treu bleiben.
Christian Hänel ist seit Januar 2023 Geschäftsführer (President & CEO) der “American Friends of the Alexander von Humboldt Foundation” (AFAvH) in Washington, DC, der gemeinnützigen amerikanischen Partnerorganisation der Alexander von Humboldt Stiftung. Diese fördert Kooperationen zwischen internationalen und deutschen Forscherinnen und Forschern und unterstützt die sich daraus ergebenden wissenschaftlichen und kulturellen Verbindungen. Die wichtigste Ressource der AFAvH sind die Alumni, die ehemaligen Stipendiatinnen und Stipendiaten der Stiftung. Diese arbeiten als wichtige Vordenkerinnen und Vordenker weltweit vernetzt an den relevanten Themen unserer Zeit, wie z.B. Erderwärmung, Energiesicherheit, öffentliche Gesundheit, technologischer Wandel, Künstliche Intelligenz. Weltweit gibt es über 30.000 Alumni, darunter 61 Nobelpreisträger und zwei ehemalige US-Energieminister. Etwa 6.000 Alumni leben und arbeiten in den USA.
Vor seiner Tätigkeit in Washington hat Hänel viele Jahre an der Schnittstelle von Corporate Citizenship (unternehmerischer Verantwortung) und Philanthropie gearbeitet und in der unternehmensverbundenen Robert Bosch Stiftung in Stuttgart vor allem die internationalen Strategien und Programme der Stiftung, sowie die Themen Zukunftsfragen und Stiftungsentwicklung verantwortet.
Der 51-Jährige ist in Bielefeld geboren, in Spenge aufgewachsen und lebt mit seiner Frau und den zwei Töchtern in der Nähe von Washington, DC. Er studierte Geschichte und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bielefeld und an der Johns Hopkins University in Baltimore, MD.